Auf Sand gebaut: Dienstleister-Vergleich über den Tagessatz
Warum der isolierte Vergleich gültiger Stunden- oder Tagessätze von Dienstleistern keinerlei Aussagekraft besitzt
Wer hat es noch nicht erlebt? Bei der Projektanfrage ist mit die erste Information, die abgefragt wird, der jeweils gültige Stunden- oder Tagessatz, den der Dienstleister für die Bereitstellung seiner Dienstleistungen aufruft. Und zweifellos ist diese Zahl wichtig, um ermitteln zu können, welche Kosten in Relation zu den geleisteten Personentagen entstehen, sollte es zu einer Zusammenarbeit zwischen Kunde und Dienstleister kommen.
Der Tages- oder Stundensatz ist eine sehr wichtige Zahl
Es ist daher natürlich richtig und absolut legitim, wenn die Frage nach dem Tagessatz früh gestellt und ebenso früh beantwortet ist, da dies eine der ersten Konstanten ist, mit denen der Kunde "rechnen" kann.
Ist beispielsweise schon ein Budget von 100.000 Euro intern bewilligt, aber noch nicht an die möglichen Dienstleister kommuniziert, so kann der Kunde über das Abfragen der Tagessätze über eine einfache Divisionsrechnung ermitteln, wie viele Projekttage er beim jeweiligen Dienstleister zu dessen Tagessatz bekommt.
Liegt der Tagessatz bei 1.000 Euro, sind es 100 Tage. Liegt er hingegen bei 800 Euro, sind es schon 125 Tage – immerhin ein gutes Viertel mehr Projektzeit.
Je mehr Personentage fürs Budget, desto besser. Oder …?
Die Versuchung ist also groß, folgende Hypothese aufzustellen:
"Je günstiger der Tagessatz des Dienstleisters, desto mehr Personentage bekomme ich von ihm. Je mehr Personentage ich bekomme, desto mehr kann ich im Projekt erreichen."
Auf die Spitze getrieben wird dieser Denkansatz mitunter bei öffentlichen Ausschreibungen, bei denen ein festes Personentagekontingent angefragt und dann allein über das Vergabekriterium Preis – also den niedrigsten angegebenen Tagessatz – entschieden wird, welcher Dienstleister für das Projekt zum Zuge kommen soll.
Das Problem
Auch wenn es auf den ersten Blick einfach und bequem erscheinen mag, den Dienstleister allein über das Kriterium Tagessatz auszuwählen – es ist bei Lichte besehen vollkommen willkürlich. Reine Tagessatz-Zahlen ohne entsprechenden Kontext besitzen keinerlei Aussagekraft über das tatsächliche Preis-Leistungs-Verhältnis eines Dienstleisters.
Ein solches kann erst ermittelt werden, wenn der Tagessatz in Relation zu anderen Parametern gesetzt wird:
a) Projektumfang
Auch wenn vielleicht schon ein Budget definiert ist – der Projektumfang ist es dadurch noch lange nicht. Erst wenn diese Größe bekannt ist, lässt sich in Relation zum Tagessatz auch das voraussichtliche Investment für ein Projekt bestimmen.
Insbesondere bei komplexen Projekten kann der Projektumfang aber erst verlässlich ermittelt werden, wenn Kunde und Dienstleister zunächst in eine Discovery-Phase mit anschließender Anforderungsspezifikation gehen.
b) Qualifikation
Wie qualifiziert ist das Team, welches das Projekt realisiert? Denkt es mit, trifft es richtige Annahmen, hält somit die Prozesse schlank und minimiert Unterbrechungen und Korrekturschleifen, die sich aus der Qualitätssicherung ergeben? Oder fokussiert es sich stumpf auf die gestellten Aufgaben, sieht weder nach links noch nach rechts, so dass jede Anforderung im ungünstigsten Falle zig Extrarunden braucht, in denen implizite Anforderungen erst mühsam und unter hohem Zeitaufwand herausgearbeitet, beschrieben, dokumentiert, umgesetzt und wieder nachgeprüft werden müssen?
c) Erfahrung
Wie erfahren ist das Team, welches das Projekt realisiert? Kennt es schon mögliche Tücken und Fallstricke für das Projekt aus anderen erfolgreich abgeschlossenen Projekten, so dass diese Risiken für das jetzt umzusetzende Projekt gar nicht erst bestehen? Kann es aufgrund der vorliegenden Anforderungen antizipieren, welche Zusatzfunktionen und Wünsche wahrscheinlich als Nächstes durch den Kunden geäußert werden und die Software-Architektur perspektivisch dahingehend konzipieren? Oder muss es sich das Datenmodell erst mühsam und langwierig im Trial-and-Error Verfahren erarbeiten, bereits implementierte Lösungsansätze aufgrund mangelnder Skalierbarkeit wieder verwerfen und sich in vielen Iterationen erst an das gewünschte Feature-Set herantasten?
d) Arbeitstempo und -organisation
Wie zügig arbeitet das Team die ihm gestellten Aufgaben ab? Können selbst umfangreiche und komplexe Arbeitspakete – auch dank der vorhandenen Erfahrung – verhältnismäßig schnell realisiert und bereitgestellt werden? Oder verbringt das Team unverhältnismäßig viel Zeit selbst mit Aufgaben geringer oder mittlerer Komplexität, während hochkomplexe Anforderungen gefühlt gar nicht zum Ende kommen wollen?
e) Qualität
Zugegeben: Das Kriterium Qualität ist ein Punkt, bei dem man im Hinblick auf aufgewendete Projektzeit "auf dem Papier" im Controlling erst einmal besser aussehen kann, wenn man an ihr spart. Aber auf lange Sicht ist das nie eine gute Idee: ein Team, das Qualität hintenan stellt, sammelt im Projekt technische Schulden an.
Diese müssen früher oder später eingelöst werden, wenn das Projekt dauerhaft verlässlich und sicher betrieben sowie weiterentwickelt werden können soll. Dies kann sehr aufwändig und kostenintensiv werden – oder im schlimmsten Fall sogar unmöglich. Der kurzfristigen Ersparnis stehen also langfristig potenziell hohe Folgekosten gegenüber.
f) Konstanz
Wie konstant ist das Projektteam besetzt? Arbeiten von Beginn bis zum Ende dieselben Personen am Projekt, so dass ihr Projektwissen und Ihre Kenntnisse über das Business-Modell und die spezifischen Bedürfnisse des Kunden sich kontinuierlich aufbauen und verbessern? Oder herrscht ständige Fluktuation im Team mit wechselnder Besetzung beim Projektmanager und den entwickelnden Personen, so dass stetig Wissensverlust droht, und mit ihm Reibungsverluste, die wiederum Zeit und Geld kosten können?
Der Kontext macht’s
Werden alle diese Aspekte mit in die Betrachtung des Tagessatzes einbezogen, kann sich in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit mit einem Mal ein völlig anderes Bild ergeben.
Ist der Preis hingegen das einzige Kriterium bei der Vergabeentscheidung, kann es durchaus passieren, dass ein Projekt mit 100.000 Euro Budget
- mit der Agentur für 800 Euro Tagessatz erheblich über das geplante Budget schießt, weil diese am Ende 200 Personentage dafür braucht, da sie bei den Punkten b) bis f) jeweils schlecht abschneidet, während
- der vermeintlich "teure" Anbieter mit 1000 Euro Tagessatz, der in den Punkten b) bis f) sehr gut aufgestellt ist, nur die Hälfte der Zeit benötigt hätte und damit "in budget" geblieben wäre.
Fazit
Der Tagessatz eines Dienstleisters ist und bleibt ein wichtiges Kriterium bei der Frage, wie wirtschaftlich ein bestimmtes Projekt umgesetzt werden kann. Er darf aber nicht isoliert und ohne Kontext mit den Sätzen von Wettbewerbern verglichen werden. Denn sonst sind diese Zahlen nur einsame Werte, die ohne Aussagekraft "in der Landschaft herumstehen". Erst bei genauerer Betrachtung der genannten Kriterien Projektumfang, Erfahrung, Arbeitstempo, Qualität und Konstanz ergibt sich somit, ob ein Tagessatz über ein stimmiges Preis-Leistungs-Verhältnis verfügt.
Nicht alle von diesen Kriterien kann ein Auftraggeber im Vorfeld natürlich abfragen oder verlässlich evaluieren – einiges davon wird erst offenbar, wenn man sich bereits gemeinsam in der Projektentwicklung befindet.
Wer also ganz sichergehen will – und die nötigen finanziellen Mittel hat – kann mehrere Agenturen in die engere Auswahl nehmen und ein einheitlich definiertes "Test"-Projekt parallel von diesen umsetzen lassen. Diejenige Agentur, bei der sich die Zusammenarbeit am besten gestaltet hat, wird dann auch der Auftragnehmer für das "Haupt"-Projekt.
Dieses Vorgehen ist vor allem bei sehr umfangreichen Projekten gar nicht so unüblich. Bei mittelgroßen Projekten gibt es für einen solchen "Agentur-Contest" verständlicherweise meist kein Budget. Aber auch hier hat ein Auftraggeber durchaus Möglichkeiten, viele Informationen über seine möglichen Umsetzungspartner in Erfahrung zu bringen. Es ist natürlich mit gewissem Aufwand verbunden und dauert erheblich länger als das reine Vergleichen von Tagessätzen. Aber es wird sich lohnen.
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